Zwei Gespräche mit Orhan Çelik

Schreiben in der Diaspora*

 

Was bedeutet die Diaspora für Sie?
Es wurde viel darüber diskutiert, wie die Diaspora zu definieren ist und welche Tragweite sie hat. Daher sollten wir den historischen Zusammenhang betrachten, in dem dieser Begriff entstanden ist. Ursprünglich bezeichnete er eine Volksgruppe, die sich von der heimatlichen Stadt der antiken Welt entfernt, um an einem entfernten Ort eine Kolonie zu gründen. Seitdem wird er für Menschen verwendet, die freiwillig oder nicht freiwillig in einem anderen Land als ihrem eigenen leben. Es handelt sich dabei um eine Existenz als Minderheit, und die Literaturgeschichte verzeichnet viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die unter Repressionen der Herrschenden ihr Land verlassen und sich in der Diaspora eine neue Heimat gefunden haben: Eduardo Galeano, Juan Goytisolo, Julio Cortazar, Mehmet Uzun, Nazım Hikmet … Es mag so aussehen, als käme sie einer Sackgasse in der literarischen Laufbahn gleich, doch es ist auch eine Tatsache, dass viele wichtige Werke der Weltliteratur in der Diaspora entstanden sind. Gleich, ob der Autor sein Land freiwillig oder gezwungenermaßen verlassen hat, begann er in der neuen Umgebung seinen Kokon neu zu spinnen. Er befindet sich in einem Prozess intensiver, komplexer Gefühle, der seine Produktivität anregt.
    In der neuen Umgebung der Freiheit rückt die Gefühlswelt seiner Kindheit ins Zentrum seines Schaffens, während er seine Herkunft aus dem Fenster der Diaspora betrachtet. Dies gibt ihm die Möglichkeit, die Kultur, die seine Persönlichkeit geprägt hat, aus einem ganz anderen Blickwinkel zu betrachten, doch bleibt er leidenschaftlich an den Themen der verlassenen Heimat hängen. Seine Sehnsucht nach der Heimat steigert sich, je mehr er sich durch die Figuren, die er schafft, und durch die Umgebung, in die er diese Figuren setzt, mit seinem Ursprung beschäftigt. Dies lässt ihm sein Leben in der Fremde wie eine Höllenqual erscheinen. Je mehr er weiterschreibt, um sich von dieser Qual zu befreien, umso tiefer dringen die Schreie jeder einzelnen Figur bis in seine Träume. Deshalb kommt er sich oft vor, als führe er in der Diaspora ein doppelbödiges Leben. Auf der einen Seite genießt er die Vorzüge der klaren Verhältnisse und der Freiheit seiner gegenwärtigen Umgebung, auf der anderen Seite sieht er Barrikaden und Stacheldraht zwischen sich und den Gärten seiner Kindheit.


Könnte man sagen, dass die Begriffe Zeit und Grenze in der Diaspora ihre Bedeutungen verlieren?
Wir müssen uns klarmachen, was für eine schwere Last es ist, ein ganz anderes Leben anzufangen in einer neuen Kultur einem neuen Gesellschaftssystem und mit einer neuen Sprache. Darum muss der Schreibende sich von der Welt des Broterwerbs isolieren, in der die Menschen um ihn herum leben, während er an seiner Grenzen überschreitender Arbeit an der Zeit sitzt.
    Dafür wendet er sich intensiv dem Kulturleben zu mit dessen Angeboten in der Literatur, Malerei, Musik und im Theater. In der Erfahrung einer multikulturellen Umwelt beginnt der schreibende Mensch, sich von seinem gewohnten Kunstverständnis zu entfernen. Durch dieses Erleben der Kultur formt sich sein Gedankengebäude in der Diaspora von Neuem. Es hängt jetzt von seinem eigenen Schaffen ab, wie er zu dem großen Angebot des Gastlandes beiträgt.


Können wir sagen, dass Autoren in der Diaspora durch die Loslösung von der künstlerischen und kulturellen Ganzheit ihrer Heimat vereinsamt sind?
Bekanntlich durchsegeln alle Schriftsteller das Meer der Einsamkeit. Sich allein zu fühlen im Menschenstrom einer Metropole, ist sicherlich kein Gefühl, das nur die Schriftsteller anfällt. Doch dieser hat den Beruf gewählt, das Gefühleknäuel des Wesens Mensch zu entwirren und es in nachvollziehbaren Einheiten seiner Leserschaft zu lesen zu geben. Diese Arbeit verursacht wiederum in seiner Innenwelt intensive Gefühlserlebnisse. In seiner Tätigkeit liegt wohl der Grund, weshalb gerade die Schriftsteller sich von gesellschaftlichen Phänomenen beeinflussen lassen. In jedem seiner Werke zeigt sich die Kultur der Gesellschaft, von der er geprägt worden ist. Das ist auch der Grund, dass Schriftsteller am liebsten dort leben, wo sie geboren sind, und versuchen, die Kultur dieser Region am Leben zu erhalten.


Existieren beginnt mit dem Sich-Ausdrücken. Hat dann die Diaspora eine Heimat in Bezug auf Ihre Muttersprache im besonderen und auf andere Sprachen im allgemeinen?
Es ist schwer, eine Literatur in der verbotenen Sprache eines kolonisierten Volkes zu definieren. Wenn wir vom kolonialistischen Egoismus der Herrschenden absehen, bleibt nur eine Erklärung für die Politik, die Sprache eines Volkes als Schulsprache zu verbieten: Rassismus. Daher begeht ein ganzes System von Gesetzen, das die Unterdrückung der Sprache eines Volkes vorsieht, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Denn das Verhindern einer Sprache als Schulsprache kommt einer vorsätzlichen Tat gleich, sie aussterben zu lassen.
    Wenn die kurdische Sprache an der Schwelle des Todes steht, so sehe ich in dem hartnäckigen Bestreben der kurdischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller eine historische Verantwortung, aus dieser verbotenen Sprache eine Romansprache zu formen. Sie haben eine geschärfte Wahrnehmung von der Kraft einer literarisch aktivierten Sprache. Wenn sie in einer todgeweihten Sprache schreiben, wird aus ihrer Verantwortung ein Widerstand. Es ist ihrer ehrenvollen Aktivität zuzuschreiben, wenn ihre Werke, in jedes derer sie mehrere Jahre ihrer Lebenszeit investieren, auch nur von einer verschwindenden Minderheit gelesen wird.
    Keine Sprache unter dem Himmelsgewölbe ist auf Gedeih und Verderb den herrschenden Mächten überlassen. Jedes Volk hat seine Existenz auf der Bühne der Geschichte seiner Sprache und seiner Kultur zu verdanken, und jede Sprache hat Teil an der Zivilisation der gesamten Welt. Es ist eine Schande für die Welt, dem forcierten Aussterben der kurdischen Sprache bloß zuzuschauen. Es ist freilich schwer, ein Schrifttum in einer gefesselten Sprache aufzubauen. Wenn die kurdisch Schreibenden verantwortungsvoll im Sinne ihres eigenen Gewissens, aber auch im Sinne der Menschheit, handeln, so ist es auch ein Gebot der Verantwortung, ihre Werke in unsere Bücherregale zu transportieren.


Wie hat sich der Geist der Diaspora in Ihrem Werk, in Ihren Figuren, niedergeschlagen?
Bei der Frage nach dem Niederschlag der Diasporasituation in Figuren denke ich an eine Passage aus meinem Roman ar:


»Mein Sohn, mein Held, seitdem ich dich auf die Flucht verabschiedet habe, habe ich mir immer gewünscht, dass du mich wenigstens in meinen Träumen besuchst. Doch du fliehst auch meine Träume! Mein lieber ar, eine Jahreszeit nach der anderen geht ins Land, seitdem du fort bist, nur mein Herz bleibt unter Frost. Ich bin zu einer Toten geworden, die nur noch den Kampf ihres Kopfes mit ihrem Herzen erlebt. Ich höre, dass du immer noch um eine Identität an den Türen der Fremde bettelst, und das macht mich vor Trauer schier verrückt. Ach, lieber Sohn, habe ich dich vielleicht geboren, damit du ein Zugvogel wirst? Es ist die Heimat anderer, die du für deine halten wolltest.
  Mein Guter, seitdem du von dem Sturm des Krieges fortgetrieben wurdest, gab es auf diesem uralten Boden hier eine unendliche Katastrophe. Wie viele Dörfer, wie viele Dörfer, wie viele Menschenseelen wurden in Brand gesteckt. Wenn du nur wiedersehen könntest, dass alles, was du für vernichtet gehalten hast, für weggezogen mit dir zusammen, aus der eigenen Asche wieder aufersteht und grünt! Du hast ja erlebt, wie der Eichenwald und wie der Weidenbaum am Dorfplatz mit dem Dorf zusammen niederbrannten. Die alte Weide, die zu Asche geworden war, treibt aus ihren Wurzeln neu. Sogar die Störche kommen seit einigen Jahren wieder im Frühling, um auf der neuen Weide ihr Nest zu bauen. Aber du erlebst das nicht. « (ar, S. 196)


Ist die Diaspora ein Ort der Widersprüche?
Das Leben in der Diaspora verlangt es, eine neue Sprache zu lernen. Überlässt man die Erfüllung dieser Notwendigkeit einfach dem Lauf der Zeit, so ergeben sich, wie bekannt, Schwierigkeiten mit der Integration im Gastland.  Vielleicht kann man die Exilsituation als eine Mangelerscheinung aufgrund von Einsamkeit betrachten. Diese Einsamkeit schlägt sich auch in den Romanen nieder, wenn sie einmal in der Zeit bleiben und einmal aus der Zeit fallen.  Was zählt, ist nicht der Ort, an dem man lebt, sondern das, was man erlebt – so wird die Gegenwart, an der man gerade angekommen ist, ständig als Vergangenheit wahrgenommen.  Es ist gleichsam ein Leben, in dem man durch Stationen eines Weges ohne Rückkehr geht und immer das Gefühl hat, gleich zurückzukehren. Ein Leben auf dem Boden schmerzhaften Alleinseins, verurteilt zur eigenen Vergangenheit. Es kommt vielleicht daher, dass man sich den Notwendigkeiten des Alltags gegenüber gleichgültig verhält.
    Sicherlich ist es wichtig, dass die Werke des Autors in der Diaspora in verschiedene Sprachen übersetzt und von ernsthaften Verlagen herausgebracht werden – doch das ist ein ganzes Problem für sich. Übersetzungen in andere Sprachen entstehen nur aufgrund des eigenen Betreibens des Autors. Es ist ein Armutszeugnis, dass drei meiner bereits ins Deutsche übersetzten Bücher auf ihren Verleger warten. Hinzukommt noch der Mangel an Institutionen, die sich literaturwissenschaftlich mit den Werken unserer Autorinnen und Autoren befassen könnten. Ich denke, dass das Entstehen solcher Einrichtungen erst auf das Betreiben der Liebhaber der Literatur gelingen kann.


In Vergessenheit zu geraten und in Erinnerung zu überleben – das muss doch mit der Realität und Konstruktion der literarischen Produktion zusammenhängen. Was würden Sie über Ihre Zukunftspläne und Ihre Erwartungen sagen?
Wenn die Produktivität eines Autors ein Ergebnis seiner inneren, durchlebten Konflikte ist, so befindet er sich an jedem Stadium seines Schreibens in einem solchen Brennpunkt von Konflikten, ohne jedoch genau zu wissen, wie sich die Kette der dargestellten Ereignisse entwickeln, wo und wann er wem im Verlauf dieses Weges begegnen wird.
    Er denkt über die groben Züge einer Handlung nach und macht sich an die Arbeit, einem Schiff gleich, das im Ozean ohne Kurs fährt, einem schattenhaften Ziel entgegen. Das schafft ein intensives Gefühl, das keine Grenzen kennt – Grenzen, die die Welt in Parzellen teilen. Er hat die Gesetzgebung der Welt der Fiktion sich zu eigen gemacht und schreibt, als ob er seine eigene Republik ausgerufen hätte. Das gilt für alle Autoren der Weltliteratur.  Dabei bezieht ein jeder Autor etwas Eigenes aus der Kultur, die ihn geprägt hat, und aus den gesellschaftlichen Ereignissen, die er bezeugen kann. Dieses Eigene eines jeden Autors macht die Literatur insgesamt reichhaltig. Noch bevor der Autor in der Arbeit eines Erzählwerks schwelgt wie in einem Vermögen, glaubt er die nahenden Schritte eines neuen Plans zu vernehmen. Was ich für die Zukunft vorhabe: Einen Roman über das Leben in der Diaspora anzufangen, das ich, wie gesagt, als ein schattenhaftes Ziel erst wahrnehme, und weiterhin kurdische Bühnenstücke zu schreiben.

 

*) Dieses Interview von Deniz Mahabad mit Orhan Çelik erschien am 21. August 2018 als vierte Folge der Reihe Schreiben in der Diaspora im Internetportal Bianet (https://m.bianet.org/biamag/sanat/194796-di-asporada-yazmak-4-orhan-celik-yanitladi / zuletzt am 30.6.2021, 19:35).

 

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Kurdische Sprache, kurdische Literatur und der »Handlungsbedarf«**

 

Sie sind ein ehemaliger Lehrer aus der Gegend Bingöl, ein mehrsprachiger Autor von Romanen und Bühnenstücken. 1959 sind Sie im Dorf Karlıova (Kanireş) geboren …
In dieser Gegend bin ich auch geblieben, bis ich in die pädagogische Hochschule kam. Meine Arbeit in vielen Gebieten der Türkei hat mich mit unterschiedlichen Kulturen des Landes zusammengeführt, was mir beim Schreiben viele Impulse gab. Viele meiner Arbeiten aus dieser Zeit, Erinnerungen und Kurzgeschichten, wurden zwar nicht veröffentlicht, doch habe ich das Schreiben nie unterbrochen.
    Mein Roman Büyük Dağda Küçük Köy [Das Kleine Dorf am großen Berg] erschien 1984, als ich Lehrer in Doğubayazıt war. Er beginnt mit der Geschichte eines Hirten in einem kurdischen Dorf am Berg Ararat, das von einem in sich abgeschlossenen sozialen Leben geprägt ist. Dieses Leben ist die schiere Hölle, weil die Stämme wegen der Weideplätze in Streit und Fehde miteinander stehen.  Da ich im Text kurdische Namen und ein kurdisches Klagelied verwendet hatte, wurde das Buch damals von der Polizei eingezogen, obwohl es kein Gerichtsurteil dazu gab. Dies hatte eine politische Verfolgung zur Folge, die den Repressionen gegenüber heutigen Schriftstellern in nichts nachstand. Die zweite Auflage erschien 2003 beim Verlag Belge, Istanbul, darauf folgte 2005 die kurdische Ausgabe im Verlag Elma. Nun freue ich mich auf das Erscheinen der deutschen Übersetzung.
   2000 kam mein zweiter Roman, Sağırtaş [Der Taubstein] heraus. Seine Geschichte beginnt mit der Auswanderung Hesenos, den die Armut und die Repressionen in Kurdistan in den späten 1980er Jahren in die arabische Wüste treibt. Inzwischen besuchen einige Kinder aus dem Stamm Hochschulen, kehren mit einem revolutionären und nationalen Bewusstsein zurück und setzen sich mit den Missständen im Clanwesen auseinander. Es ist ein doppelter Kampf, der sich gegen die feudalen Strukturen und zugleich gegen die Ausbeutung des Systems richtet. Der Roman zeichnet den Werdegang der politischen Bewegung der Kurden in einer Ära nach, in der sie verstärktem Druck durch das Dorfschützersystem ausgesetzt sind.
    Auf dieses Buch folgte 2002 Kumluk Diyar {Die verlorene Geschichte], das auch bei Belge erschien. Dieser Roman handelt von der Evakuierung und Vernichtung der kurdischen Völker in den mittleren 1990er Jahren. Die Bewohner wanderten samt ihren bäuerlichen sozialen Verhältnissen in die Städte aus, die sich dann gleichsam in große Dörfer verwandelten. Er konzentriert sich auf eine Tragödie von mehreren Hunderttausende Menschen. Nach der Zerstörung seines Dorfes geht Kekali nach Van und nimmt sein ganzes Vermögen mit, das aus einem hinkenden Maultier besteht, und versucht sich dort als Lastenträger über Wasser zu halten.
In meinem Hamburger Lebensabschnitt initiierte ich die Gründung einer kurdischen Theaterbühne namens Gilidax, an der ich ein Jahr später mein Stück Sterken Ezmanen Hesin inszenierte. Es zeigt die Außenansichten der kurdischen Befindlichkeit im Laufe der fortschreitenden Assimilation und vom Malström des Verbotes des Kurdischen als Muttersprache. Ich freue mich ganz besonders darüber, dass dieses Stück mehrmals auf die Bühne kommen und als Buch erscheinen konnte.
    Ein weiteres Stück, Adıre Çolig, das ich in der Sprache der Zaza geschrieben hatte und das 2013 uraufgeführt wurde, handelt von lokalen Erscheinungen rückständigen Denkens und von der Wahrnehmung der Politik in verschiedenen Generationen.
2015 erschien mein Roman AR, der die Fluchtgeschichte eines kurdischen Veterinärs erzählt. Der in der Türkei verfolgte Protagonist AR kommt auf illegalem Wege nach Europa, bemüht sich um die Anerkennung seines Asylantrags, was einer Identitätssuche gleichkommt. Er lernt neue Lebensgeschichten kennen und entwickelt die Leidenschaft des Schreibens. Doch beschließt er, dem Ruf seines Herzens zu folgen, das immer noch an den Orten der Kindheit hängt.
    2016 veröffentlichte der Verlag Belge mein kurdisches Bühnenstück Fistansoré, dessen Proben zur Zeit laufen.

 

Worauf basiert Ihre Literatur?
Sicherlich ähneln sich die literarischen Abenteuer vieler Schriftsteller, und sie weisen genausogut auch Unterschiede auf. Von den Romanschreibern denke ich jedoch, dass die Geschichten aus der Kindheit bei allen eine gemeinsame Grundlage bilden.
Das Dorf Karlıova, mein Geburtsort, liegt dort, wo der Fluss Peri entsteht, der aus verschiedenen Quellen gespeist wird. Die Eiseskälte der Winter dieser Gegend erlebte ich immer mit einer Vorfreude auf den Frühling. Es musste ja die Zeit kommen, da der meterhohe Schnee schmolz und der Fluss anschwoll. Zu dieser Erinnerung gehörte der Ruf der Kraniche, mit dem die Natur für mich etwas Mystisches gewann, und gehörte die Stimme des Kilam-Sängers, die von den Bergen zurückhallte, und meine Kinderseele glaubte, dass die Natur mit den Zeilen von Evdalé Zeyniké wiedererstand. Vielleicht ist die Literatur für mich zu einem lebensbestimmenden Faktor geworden, weil ich diese Bilder aus meiner Kindheit wachgehalten habe.

 

Wenn Sie von diesem Grundgefühl aus schreiben – wie gehen Sie mit dem Verhältnis Fiktionalität sozialer Realität um?
Darüber wurde ja viel diskutiert. Ich denke, dass die Fiktion ein zweckmäßiges Mittel im Dienste der Schreibkunst ist. In der Literatur geht es nicht um die bloße Wiedergabe des Erlebten, wenn sie die soziale Realität erfassen soll, sondern auch des möglicherweise Erlebbaren. Sonst würde sie sich in den Zufälligkeiten des Persönlichen verlieren. Stattdessen muss das Schreiben das Erlebte und Erlebbare mit Gefühl, Ästhetik und Ironie vermischen. In diesem Zusammenspiel entsteht erst die literarische Wiedergabe der sozialen Realität.

 

Mit der „Fozialen Realität” sind wir gleich bei der Politik. Wie denken Sie über den Einfluss der kurdischen Politik auf die kurdische Literatur?
Bei dem Stichwort kurdische Politik können wir die kurdische nationale Bewegung nicht ignorieren. In jedem Land war ein vergleichbarer Befreiungskampf eine Nährquelle für die Kunst und Literatur, und das gilt auch für den kurdischen Fall.  
Diese seit nahezu vierzig Jahren andauernde Bewegung wurde vielfach in der Literatur und im Film thematisiert. Auf der Kehrseite dieses kulturellen Phänomens steht die Tragik des Krieges, werden in Kurdistan doch immer noch Dörfer und Wälder in Brand gesteckt und Städte bombardiert. Von einem System, das der eine Million zählenden kurdischen Bevölkerungsgruppe kein Selbstbestimmungsrecht zuerkennt, kann man folgerichtig nicht erwarten, dass es die Sprache, Literatur, Kunst, Geschichtsschreibung usw. der Kurden unterstützt.
Wenn wir über den Begriff der sozialen Realität in der Kunst sprechen, müssen wir bereits bei den Grundrechten des Einzelnen ansetzen. Darin ist auch die Art und Weise aufgehoben, in welcher Form das Subjekt der Romankunst Zeugnis von der Geschichte ablegt. Ich bin überzeugt davon, dass die kurdische Literatur, die ja in der Asche eines Krieges keimt und treibt, eines Tages ihre Früchte tragen wird, und ich hoffe, dass wir die Ernte noch erleben werden.

 

Bedeutet das für Sie, dass der kurdische Roman noch Zukunftsmusik ist?
Die Frage nach dem kurdischen Roman finde ich interessant.  Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass dieses Volk zwischen vier Staaten geteilt seit einem Jahrhundert Assimilationen ausgesetzt lebt. Da dieser vierseitige Druck heute noch anhält, bekommt der Versuch der Kurden eine besondere Bedeutung, ihre Geschichte jeweils gerade in der Sprache des assimilierenden Staates zu schreiben. Wir können diese Situation sogar als eine Übergangsphase zum Roman in der eigenen, kurdischen Sprache bezeichnen. Es ist auf jeden Fall ein Gewinn, wenn die Kurden ihren Roman in der jeweils gelernten Landessprache schreiben.
Doch das ist ein Übergangszustand, und es wäre problematisch, daraus einen Dauerzustand zu machen. Die kurdischen Schriftsteller müssen sich zu der Verantwortung gegenüber der Geschichte bekennen, in ihrer eigenen Sprache zu schreiben. Nicht etwa, weil die Weltliteratur unbedingt Werke in kurdischer Sprache verlangte, sondern weil die Sprache die Grundlage einer jeden Literatur ist – so die kurdische Sprache der kurdischen Literatur.
Dabei geht es nicht darum, auf Teufel komm raus die kurdische Sprache zu verwenden. Wichtig ist, eine in Kurdisch gedachte Geschichte mit Liebe zu dieser Sprache im Herzen und mit dem Klang dieser Sprache im Ohr niederschreiben zu können. Denn die Figuren leben ja in uns in der kurdischen Sprache, die wir dann in einer im Kopf kurdisch gesponnenen Geschichte auftreten lassen. Dabei bin ich mir sicher, dass es ein besonderer Genuss ist, beim Schreiben gleich diese Sprache im Kopf zu verwenden.
Was mich betrifft, so kannte ich noch kein kurdisches Alphabet, als 1984 mein erster Roman gedruckt wurde. Die Bedingungen verboten es auch, eins ausfindig zu machen und zu verwenden. Es ist traurig für mich, dass ich nach gut drei Jahrzehnten immer noch nicht in Kurdisch schreiben kann.
    Vielleicht betrifft dieses Unvermögen nur die Gattung Roman. Doch schreibe ich kurdische Kurzgeschichten und Bühnenstücke, und inszeniere diese auch, und glaube mich darum auf dem Weg zum Roman in Kurdisch. Das lässt sich nicht als Programm verwirklichen, sondern muss sich im Schreibprozess von selbst entwickeln.
    Wenn ein kurdischstämmiger Schriftsteller wie Yaşar Kemal türkisch schreibt, so ist es doch nicht zu verleugnen, dass die Kurden in all seinen Werken präsent sind. Im Anbetracht der herrschenden Lage können wir rückblickend sogar sagen, dass seine türkisch geschriebene Literatur dazu beigetragen hat, dass die Kurden eine Liebe zur eigenen Kultur entwickeln konnten.
Im Film ist es nicht anders, und das zeigen uns Yılmaz Güneys Filme wie Die Herde und Der Weg deutlich. Ich habe viele in Kurdisch gedrehte Filme gesehen, aber gerade diese türkisch gedrehten Güney-Filme und die darin verwendete Körpersprache war es, die meine verschüttete Identität am innigsten berührten. Daher finde ich die Frage müßig, welchem Volk ein Film wie Die Herde oder Der Weg zuzurechnen sei.
    Wenn wir an die Anfänge der kurdischen Literatur denken, könnten wir viele Dichter nennen, die in kurdischen Geistlichenschulen ausgebildet wurden. Ohne Zweifel gehört Ehmedé Xané zu den Gründern einer kurdischen Literaturtheorie. Was den Roman betrifft: Den Grundstock des kurdischen Romans bilden die Werke, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Eriwan entstanden.

 

Wie verhält es sich mit der Gattung Kurzgeschichte in kurdischer Sprache?
Wenn ich da an die Grundlagen denke, kommt mir die mündliche Erzähltradition der Gattung „Kilam“ in den Sinn. Hier ist Celilé Celil (geb. 1936) unbedingt zu erwähnen, ein Mann, der sieben Jahrzehnte seines Lebens dem Schreiben gewidmet hat. Sein Werk ist ein großer Schatz. Ahmet Aras‘ hat beachtenswerte biographische Erzählungen im Stil der Kilam-Dichtung und Kurzgeschichten geschrieben, und es gibt Hunderte junger SchriftstellerInnen, die in dieser Gattung produzieren.

 

Wie müsste gegenüber dieser Produktion eine kurdische Literaturkritik aussehen?
Ein literarisches Werk kann im Publikum nur Fuß fassen, wenn es kritisch beleuchtet wird. Doch die Kritik kurdischer Literatur lässt sehr viel zu wünschen übrig. Die Grenzen der Nationalstaaten teilen die Literatur in Nationalliteraturen, die dann auf dieser Basis staatlich gefördert werden. Dank dieser Förderung existieren zum Beispiel die literaturwissenschaftlichen Abteilungen an den Universitäten  oder können literaturkritische Arbeiten über die Werke der Nationalliteratur in Buchform verlegt und vertrieben werden.
    Der kurdische PEN-Club ist aufgrund seiner Voraussetzungen noch nicht in der Lage, nennenswerte praktische Arbeit zu leisten. An diesem Missstand ändert die persönliche Arbeit einiger weniger Kritiker nicht viel. Dennoch gibt das Engagement junger Kritiker Anlass zur Hoffnung.

 

Welche Hindernisse haben die kurdischen Schreibenden in der heutigen Kulturlandschaft zu überwinden?
In meinem Schriftstellerleben über dreißig Jahre hinweg erlebte ich folgendes: Ein kurdischer Schriftsteller schreibt mit dem größten Genuss, wenn er am Schreibtisch sitzt und schreibt. Denn das Leben eines jeden Kurden ist voller Hindernisse, die ganze Romane füllen würden. Es sind Lebensgeschichten, die sich mitten im Krieg und an der Schwelle zur Hoffnung abspielen, in einem Kampf um die verfassungsmäßige Sicherung von Grundrechten, und das sind Geschichten, die ein über zwanzig Millionen zählendes Volk seit einem Jahrhundert bewegen. Da ist viel Stoff für Theater und Film, aber auch für Roman und Literatur überhaupt. Das kurdische Leben steckt voller tragischer und komischer Geschichten. Doch bei aller Fülle an Stoff gibt es eine Schwierigkeit: das Verlegen und Unter-das-Volk-Bringen der Bücher. Das System funktioniert leider so, dass Verlage mit einem kurdischen Programm als oppositionelle Verlage mit unterschiedlichen Mitteln bestraft werden. Nur wenige konnten überleben, und sie nehmen in den Vertriebsnetzen der Türkei einen sehr kleinen Teil ein. Wenn wir noch die fehlende Lesegewohnheit des kurdischen Menschen hinzunehmen, wird für uns das Schreiben zu einer Widerstandsform, die nur schwer durchzuführen ist.

 

Und welche Probleme sehen Sie das kurdische Lesepublikum betreffend?
Es ist eine Tatsache, dass die vierzigjährige aktive Politik etliche Brüche in den althergebrachten Gewohnheiten der kurdischen Bevölkerung hervorgerufen hat. Dennoch ist es dieser Bevölkerung immer noch nicht gelungen, eine Brücke zum Lesen zu schlagen. Meine Kritik richtet sich vor allem an die jungen Menschen, die unter dem Einfluss der kurdischen nationalen Bewegung stehen. Dieser Generation gehört unsere Zukunft, und ich sehe großen Handlungsbedarf, was ihre Lesegewohnheiten und ihre Nähe zur Kultur betrifft.


Wie könnten die Schreibenden bei diesem „Handlungsbedarf“ unternehmen?
Ein Mindestmaß an Dialog ist unerlässlich. Diesen Standpunkt sehe ich bestätigt, nachdem ich vier Jahre lang Vorsitzender des Kurdischen Autoren- und Künstlerclubs gewesen war, der es sich zum Ziel nimmt, das literarisch-künstlerische Schaffen zu fördern und eine Institution für das kurdische Theater zu etablieren. Denn es ist entweder ganz unmöglich oder sehr erschwert für Kurden, als individueller Kulturschaffender im eigenen Land zu existieren. Europa stellt dagegen einen Raum dar, in dem so etwas wie eine kurdische Renaissance möglich wäre. Außerdem halte ich den organisierten Zusammenhalt der Kulturschaffenden für einen Beitrag zum Frieden in unserer Region. Die kurdischen Autoren und Künstler befinden sich in der Art von Exil, die mich an die Exilierten während der Nazizeit erinnert. In der psychischen Verfassung der kurdischen Kulturschaffenden she ich sie zur Zeit noch in der Befangenheit der Kolonisierten, und ich möchte betonen, dass wir zu unserer historischen Situation unbedingt gemeinsam Stellung nehmen müssen.



**) Dieses Interview erschien am 2. November 2016 in der Online-Zeitschrift Pirtûk û Weje [Literatur]. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers (Überschrift vom Verlag geändert):
»Yazar Orhan Çelik ile Söyleşi«, Pirtûk û Wêje, 17.11.2016 https://pirtukweje.wordpress.com/2016/11/17/yazar-orhan-celik-ile-soeylesi/ (zuletzt am 17. Mai 2020)

 

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