Leseprobe aus "Wanderjahre"

Theaterstück von Zehra İpşiroğlu

 

 

 

1. Szene
DIE DEUTSCHEN SIND SUPER


PASSPOLIZIST misstrauisch: Dünya Gün. Sind Sie Dünya Gün? Ist das Ihr richtiger Name?
DÜNYA: Ja.
PASSPOLIZIST: Sprechen Sie Deutsch?
DÜNYA: Ja, vielleicht sogar besser als Sie.
PASSPOLIZIST verdutzt und verärgert zugleich: Was soll denn das heißen?
DÜNYA: Das heißt: Als ich Deutsch lernte, waren Sie noch ein Engel im Himmel.
Musik der fünfziger Jahre. Dünya kommt zur Vorderbühne.
Damals lebte Fräulein Brigitte bei uns in Istanbul, ein Au-pair-Mädchen aus gutem Hause. Sie sollte mir Deutsch beibringen. Hatte aber keine Ahnung, weder von Umgang mit Kindern noch von Sprachunterricht Seufzt Ach diese bescheuerten Artikel und langen Konjugationen. Ich arbeite, du arbeitest, wir arbeiten. Brigittes Stimme imitierend Los, weiter … Ich lerne, du lerntest … Nein, nicht lerntest: lernst! Er lerntet … Nein! Hält jammernd die Backe Aua, das tut weh …
Das Kind DÜNYA singt das Volkslied: Wer nur den lieben langen Tag ohne Plag ohne Arbeit verschwendet, wer das mag, der gehört nicht zu uns … Wir gehören, ihr gehörtet … Nein, nein, Au … Rebellierend mit weinerlicher Stimme Deutsch schlecht, sehr schlecht, aua …

Sie singt: Wir stehn des Morgens zeitig auf … Bitte, ich will noch schlafen, bitte … Hurtig mit der Sonne Lauf … Auaaa …
Weiter: Ich liebe, du liebst, er liebt … Sie imitiert Männer, die hinter Brigitte her sind … Da sind die Onkel, die uns bei unseren Spaziergängen hinterherlaufen und dabei Liebe, Liebe schreien. Aber oh weh, Brigitte ist nicht nur schön wie eine Prinzessin, sondern auch stark wie eine Amazone. Sie imitiert Brigitte, wie sie mit ihrem Stöckelschuh heftig auf die Hand eines Zudringlings schlägt … Nein schöne Frau, du mich nicht verstehen, ich dich lieben, du schön, serrr schön … Liebe Ja? Liebe serrrr schön … Auuuu … Sie lacht auf … Na Onkel, hat es dich auch erwischt?
Ich lerne, du lernst, sie lernt … Da sind schon die Kinderbücher: Fix und Foxi bitte sehr, Das Försterkind Pucki, Rosemarie auf der Heide, Das doppelte Lottchen … Lesen macht Spaß, und wie!
Aus dem Leben eines Taugenichts ... Fröhlich Eine wunderbare Zauberwelt mit zwitschernden Vögeln, leuchtenden bunten Blumen, einer Mühle, die sich dreht … Ängstlich Aber nein nein, bitte nicht den Erlkönig … „Du liebes Kind komm, geh mit mir, gar schöne Spiele spiel ich mit dir“ … Nein, nein … „Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt“ … In Panik „Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an, Erlkönig hat mir ein Leids getan!“ Schreiend wache ich auf und umarme fest die starke Brigitte, die ja bei mir im Zimmer schläft, um mich zu beschützen und zu bewachen … Noch heute graust es mir ein wenig, wenn ich dieses Gedicht lese.
Sie ahmt den Passbeamten nach Sprechen Sie Deutsch? Ja, und Sie, sprechen Sie Türkisch?
Voller Freude: Bald komme ich in die Deutsche Schule in Istanbul … Die Deutschen sind super, ich liebe die Deutschen …



Ich kannte schon einige Deutsche, Kollegen meines Vaters, die als Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland in die Türkei gekommen waren, an der Universität arbeiteten, bei uns zu Besuch kamen und mir ab und zu auch Geschenke brachten.
Voller Freude öffnet Dünya ein Schokaladenpaket.
Projektion – Infos mit Bildern von bedeutenden deutschen Flüchtlingen von damals, die vor dem Hitler-Regime in die Türkei geflohen waren. Der Bildhauer Rudolf Belling, der Rechtswissenschaftler Ernst Hirsch (Zitate Aus dem Film Heimatloz)
Im Hintergrund – Das Horst-Wessel-Lied: „Die Fahne hoch, die Reihen festgeschlossen, SA marschiert mit ruhig festem Schritt.“
Aber nach dem Krieg kamen dann auch einige Nazibraune zu uns … z.B.: Professor Schulze, der 1933 bei der Bücherverbrennung mitgemacht hatte, und die Uni Istanbul als Professorenwaschanlage benutzte … Aber psssst, darüber spricht man nicht …
Eine krähende Frauenstimme singt zu Klavierbegleitung ein Schubertlied – „Ich hör ein Bächlein rauschen wohl aus dem Felsenquell, hinab zum Tale rauschen so frisch und wunderhell“
Dünya hält fest die Ohren zu.
Immer wenn Schulzes bei uns zu Gast sind, geht es los … Frau Schulze, eine in Deutschland verschmähte Sängerin, tobt sich aus, und ihr Mann, oh weh, der bekommt wieder einen Redeanfall. Sein Mund schäumt, wie bei einem epileptischen Anfall, sein Wortschwall steigert sich immer mehr, er ist nicht zu bremsen, Spucke läuft aus seinen Mundwinkeln …
Doch nichts geht über die türkische Gastfreundschaft. Baba: ein höflicher Gastgeber, stets in höheren geistig-künstlerischen Sphären. Anne, meine Mutter: Gastgeberin, Klavierbegleiterin, Hausfrau, Köchin einfach alles …


Die krähende Frauenstimme singt weiter. Die Musik wechselt über zu dem fröhlichen Lied: „Wir stehn des morgens zeitig auf, hurtig mit der Sonne Lauf, sind wir wenn der Abend naht, nach getaner Tat eine muntere, fürwahr eine fröhliche Schar …“
1958: Deutsche Schule in Istanbul: Disziplin, Ausdauer, Fleiß, Gehorsam.
Also, ich muss sagen, diese deutschen Lehrer sind verrückt, echt, sie werden wohl direkt aus der Irrenanstalt in die Türkei geschickt.
Da marschiert unser Biolehrer im Militärschritt herein: Guten Morgen Kinder. Guten Morgen, Herr Lehrer … Aufstehn, Stillgestanden, Setzen … Er brüllt … Setzen, hab ich gesagt. Wiederholen … Los … Aufstehen, Stillgestanden! Er brüllt Stillgestanden, Setzen … Wer das nicht durchhält: Knieübungen, bitte sehr … Lernen? Wer interessiert sich schon für den Biomist.
Da ist unser Englischlehrer, er spielt mit uns Puzzle, aber wie? Er schlägt und zerteilt uns in kleine Stücke und setzt uns dann nach und nach zusammen. Sie imitiert den Lehrer, energisch „Diese Unterrichtsmethode hat hundertprozentige Wirkung. Ich versichere euch, bald könnt ihr so gut Englisch wie kein Engländer in England.“
Und seht euch mal den Alain Delon an, unseren Kunstlehrer! Zum Anfressen, der Typ. So knackig, dass alle Mädchen ihm sofort zu Füßen liegen. Aber, Achtung, Hochspannung, Gefahr … Sobald der Typ die Klasse betritt, geht es los, er fasst die Jungen am Nacken und knallt ihre Köpfe zusammen, dass es richtig kracht. Er zieht den Mädchen so an den Haaren, dass sie aufschreien. Ist er mal so richtig in Fahrt, würde er am liebsten ein paar von uns einfach aus dem Fenster rausschleudern. Das ist zwar kein Kunstunterricht, aber eine echte Täter-Opfer-Performance, voll interaktiv …

 

 



Warum sind die Deutschen so durchgeknallt? Das ist noch „Nazi-Geist“, sagt mein Baba und behauptet, dass gerade die Auslaufmodelle, die in Deutschland nicht mehr in sind, zu uns exportiert werden. Als Baba in den dreißiger Jahren in Deutschland studierte, hat man solche Horror-Typen sogar auf der Straße gesehen, die liefen frei herum und machten Linken und Juden die Hölle heiß … Na ja, heutzutage ist erstens alles anders, zweitens sind die türkischen Lehrer ja um keinen Grad besser. Alle Lehrer haben einen Knall, alle. Aber wenn du sie in Zivil siehst, kommst du gar nicht darauf.
Also brüllende und schlagende Lehrer sind hier ganz normal. Nur Fräulein Brom ist anders: eine dürre Bohnenstange mit langen knochigen Beinen, fein, still und freundlich. Aber sag mal zu ihr statt „Fräulein” „Frau”, schon ist sie eingeschnappt „Wievielmal soll ich euch sagen, dass ich ein Fräulein bin?“
Vertraulich zu den Zuschauern Die ist hier, um sich einen geilen Türken aufzuschnappen. Die türkischen Männer sind ja echt scharf auf Jungfrauen … Bedauernd Aber nichts, keine Aussichten. So umwerfend schön ist sie ja nun nicht, dass die arschbeinigen türkischen Männer sich ständig das Genick verrenken würden. Darum ist sie fast am Rande des Nervenzusammenbruchs, echt, schon das kleinste Geräusch, ein Papierrascheln etwa, und sie schnappt ein. „Wer war das? Ali, sofort an die Wand! Aber ein bisschen dalli!“
Ali grinst. Fräulein Broms Beine aus der Nähe bewundern und dabei die frechsten Fratzen schneiden, ist cool. „Wer lacht hier, hat gelacht?“ Nachsitzen. Alle schreiben hundertmal: In der Schule wird nicht gelacht. Kinderlied von Günter Grass: „Wer lacht hier, hat gelacht? Wer hier lacht macht Verdacht, dass er aus Gründen lacht.“ Aber diese Gründe kennt Fräulein Brom eben nicht.

Gar nicht zum Lachen sind meine Noten. Sie schüttelt den Kopf … Hoffnungslos … Unseren Deutschlehrer trifft der Schlag, als er meinen Aufsatz liest: „Kindchen, du kannst nicht mal einen Akkusativ vom Dativ unterscheiden … Und wie hast du denn das da geschrieben?"
Na ja, nicht jeder produziert so einen Schulaufsatz wie ich: als Kunstwerk im postmodernen Stil-Mix aus Eichendorff, Kästner und Kasperlebüchern … Zu den Zuschauer*innen Heute im Google-Zeitalter, wo jeder im Handumdrehen die schönsten Collagen hinkriegt, nähme einem so etwas natürlich keiner ab … Aber was hilft Sehr gut in Deutsch, wenn alles andere mangelhaft ist!
Die Frage ist: Wie kann man mit denkbar schlechtesten Noten zur Musterschülerin werden? Also da hilft nur die Wahrheit, nichts anderes als die Wahrheit.
„Dünya, warum hast du deine Hausaufgaben nicht gemacht?“
Da sagst du nicht etwa „Kurzschluss wegen Bauarbeiten“, „Strom ausgefallen“, „Mein Opa bekam einen Herzinfarkt“, „Unsere Katze ist gestorben“ oder so einen Mist, die Lehrer sind ja nicht dumm. Du sagst ganz einfach: „Fühlte mich etwas überfordert“, „Mein Gehirn ist momentan nicht in Bestform“, „Ich war hundemüde.“
Ahaa! Ein Kind, das nicht lügt, wunderbar, vorbildlich … Die Lehrer mochten mich echt, also keine extra Kniebeugen beim Biolehrer, kein Puzzlespiel beim Englischtyp, sogar der Kunstpsycho verschont mich mit seiner Haar-Zerrerei oder sonstigen netten Einfällen. Leider ging die Zuneigung der Lehrer aber nicht so weit, dass sie mir ausreichende Noten gaben.
Lieber Allah, mach, dass ich nicht sitzen bleib … Und plötzlich, oh Wunder, Allah erhörte mich.
Die Militärmusik vom 1. Putsch, 1960 – „Olur mu böyle olur mu, kardeş kardeşi vurur mu?“
Sie springt freudig herum: Hurra, Ich muss nicht mehr in die Schule: Putsch!



Leseprobe aus "Frauenlandschaften"

Theaterstück von Zehra İpşiroğlu

 

 

 

1. Szene
ALLE HABEN ES GEWUSST


MODERATORIN: In diesen Tagen wird darüber entschieden werden, ob Leyla Alyel, die wegen Tötung in Notwehr vor Gericht steht, vorläufig freigelassen wird. Darüber interviewen wir Menschen, die Leyla kennen. Könnten wir dazu auch Ihre Meinung hören?
EYLÜL aufgeregt und wütend: Volle Ungerechtigkeit. Jeder weiß, was für eine Gewalt die arme Frau hatte erleiden müssen … Doch alle sehen sie so an, als hätte sie eine Macke.
MODERATORIN: Warum?
EYLÜL: Weil sie nicht geschwiegen hat, weil sie, wenn sie ein blaues Auge bekam oder wenn ihr Gesicht zu Brei geschlagen wurde, sich nicht herausredete wie etwa: „Ich bin von der Treppe heruntergefallen“ oder „Ich habe mich am Kühlschrank gestoßen.“
Jeder weiß doch, was hier los ist, aber alle schweigen. Höhnisch Die Frauen hier müssen sehr ungeschickt sein, ständig stürzen sie hin, holen sich bald hier, bald da blaue Flecke. Aber niemand sieht etwas, niemand spricht darüber, das ist voll normal hier. Wenn du mich nicht siehst, sehe ich dich auch nicht, das ist der Deal. Aber hinten herum reden sie übereinander. Klatsch und Tratsch ist das einzige Vergnügen hier.
MODERATORIN: Und wie konnte Leyla damit umgehen?

EYLÜL: Überhaupt nicht … Sie stieß immer gegen Wände. Ihre Familie, die Nachbarn, die Polizisten, die Staatsanwaltschaft … .Sie konnte zwar kurz einmal aufatmen, damals, als ihr Mann für diese eklige Sache ins Gefängnis kam, aber als er schnell wie raus war, war sie wieder im Alptraum drin. Niemand konnte sie beschützen … Und die Polizei …
MODERATORIN: Hat ihr nicht helfen können?
EYLÜL voller Wut: Wissen Sie, wievielmal sie mit blauen Flecken im Gesicht und am Körper zur Polizei gelaufen ist? Hat denn eine Frau überhaupt das Recht, sich scheiden zu lassen, hat sie das Recht, einfach ein neues Leben anzufangen? Immer das Gleiche. Frauen, die gefangen sind an einem Platz, der ständig beobachtet und kontrolliert wird. Und der Wächter dieses Gefängnisses ist die Polizei.
MODERATORIN: Ist das der Polizei gegenüber nicht etwas ungerecht?
EYLÜL: Ungerecht? Haben Sie je etwas mit der Polizei zu tun gehabt?
Die Szene verdunkelt sich. Rückblende
Chormusik, Polizei-Marsch „Schlafe friedlich, die Polizei bewacht dich … Hab keine Furcht, die Polizei ist dir nah. Immer einsatzbereit, für dein Land, für deine Fahne, die Polizei hilft dir jederzeit. Ruf sie an, schon ist sie da, immer einsatzbereit.“
Auf der Polizeistation. Eylül kommt atemlos herein
1. POLIZIST: Hey, junge Frau, sachte, sachte!
EYLÜL: Ich will eine Anzeige erstatten.
2. POLIZIST: Was für eine Anzeige, gegen wen, wieso, warum?
EYLÜL: Es waren mehrere. Plötzlich haben sie mich eingekreist, mit den schamlosesten Beschimpfungen und Flüchen,
1. POLIZIST: Was für Flüchen? Er grinst



2. POLIZIST: Sage mal ganz langsam, was sie gesagt haben, dann schreiben wir es genau auf … So wie Du sprichst, haben wir nichts verstanden, nichts …
EYLÜL: Sexuelle Belästigung sag ich, Be-läs-ti-gung … .
1. POLIZIST: Schon gut Er grinst … Wie sollen wir ein Protokoll aufnehmen, wenn Du nicht ganz genau sagst, was sie gesagt haben?
2. POLIZIST betrachtet Eylül von oben bis unten: Warum belästigen sie nicht uns, sondern gerade dich?
1. POLIZIST: Was suchst du überhaupt mitten in der Nacht auf der Straße? Und so aufgemacht. Ganz hübsch anzusehen …
2. POLIZIST: Rede schon. Was haben sie gesagt, wie haben sie dich belästigt? Nur mit Worten oder auch … Er grinst
EYLÜL wütend: Ich möchte mit einer Polizistin sprechen.
1. POLIZIST: Hast Du etwa kein Vertrauen zu uns?
Grinsend gehen die Polizisten weg
POLIZISTIN kommt mit unfreundlichem Gesicht, setzt sich an den Computer: Immer das gleiche, aus einer Mücke macht ihr gleich einen Elefanten. Wegen dir werde ich noch in der Wache übernachten. Na schieß los, aber beeil dich!
EYLÜL: Sexuelle Belästigung.
POLIZISTIN: Wo ist die ärztliche Bescheinigung? Ohne Bescheinigung können wir keine Anzeige annehmen.
EYLÜL: Wieso denn, sie haben mich nur beschimpft.
POLIZISTIN: Und das ist alles? Was willst du dann hier?
EYLÜL: …

POLIZISTIN: Sprich doch, Mädchen, warum bist du überhaupt hier?
Rap-Musik: „Faschistische Polizei schreist du und läufst weg. Aber kaum bist du in Not, rufst du schnell 155.“
EYLÜL: Sie haben mich beschimpft und beleidigt.
POLIZISTIN ungeduldig: Was denn, auch ich werde ab und zu mal angemacht … Ist das alles?
EYLÜL: Ich bekam große Angst.
POLIZISTIN: Kein Wunder, denn was hast du auch mitten in der Nacht auf der Straße verloren? Sie betrachtet Eylül Hast du denn keine Angehörigen?
EYLÜL: Ich war mit Freunden unterwegs.
POLIZISTIN: Mitten in der Nacht?
EYLÜL: Wir waren zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Später, als ich mich von den Freunden getrennt hatte, wurde ich an der Bus-Haltestelle angegriffen, ganz plötzlich, ich begriff nichts …
Während Eylül spricht, werden Rap-Musik und Polizeimarsch immer lauter. Ihre Stimme ist kaum zu hören, nur einzelne Wortfetzen kommen zu Ohr, zum Schluss hört man überhaupt nichts.
Rap-Musik: „Faschistische Polizei schreist du und läufst weg. Aber bist du in Not rufst du schnell 155.“
Während Eylül spricht, versteht man jetzt jedoch nur die Fragen der Polizistin.
POLIZISTIN: Mit wem bist du ausgegangen? Wohin seid ihr gegangen? Wissen denn deine Eltern überhaupt etwas davon, dass du mitten in der Nacht herumläufst? Habt ihr Alkohol getrunken? Wieviel hast du getrunken? Worüber habt ihr euch unterhalten? Wann hast du dich von den Freunden getrennt? Warum haben deine Freunde dich nicht nach Hause gebracht? Hast du dich etwa auffällig verhalten? Ja, gut, wir werden uns schon um die Sache kümmern, unterschreib mal das hier, ja, gut, gut, wir kümmern uns schon darum.



EYLÜL liest das Protokoll vor, zuerst zögernd, dann gerät sie immer mehr ins Stocken, zum Schluss schaut sie irritiert das Publikum an, während die Bühne sich verdunkelt.
Ich heiße Eylül Ertan. Ich bin 23 Jahre alt. Ich studiere Soziologie. Ich habe bisher keine Straftaten begangen. Aber es stimmt schon, in meinen ersten Semestern hab ich mich an den Gezi-Protesten beteiligt. Ich hatte im Studentinnen-Wohnheim keinen Platz bekommen, da habe ich mit meinen Studienfreunden eine Wohnung gemietet, in der Studenten und Studentinnen gemeinsam wohnen. Mit Erlaubnis meiner Familie wohne ich zurzeit dort. Ich habe keinen festen Freund, treffe mich aber öfters mit verschiedenen Freunden.
Am Donnerstagabend haben wir in einem Lokal Geburtstag gefeiert. Wir waren drei Studenten und zwei Studentinnen. Wir haben auch Bier getrunken. Meine Eltern wissen nichts davon. Ich bin früher weggegangen als die anderen. Als ich auf dem Weg nach Hause war, haben mich drei unbekannte Männer bedroht und verfolgt. Ich lief mit schnellen Schritten, ohne nach rechts und links zu gucken. Aber ich hatte ein ärmelloses T-Shirt und einen Minirock an, außerdem war ich stark geschminkt. Insofern könnte ich die Männer provoziert haben. Die Männer haben mich nicht nur fürchterlich beschimpft, sondern mir auch große Angst eingejagt. Nur mit Mühe konnte ich ihnen entkommen und mich in Sicherheit bringen. An meinem Körper gibt es keine Anzeichen dafür, dass ich angegriffen worden bin.
Ich kenne die Angreifer nicht. Es geht nicht etwa um einen Spaß, den mir meine Freunde bereitet hätten. Ich gebe zu, dass ich Alkohol getrunken habe. Aber ich bin sicher, dass ich keine Halluzinationen gehabt habe. Ich zeige die Angreifer an, weil sie mir nicht nur große Angst eingejagt, sondern mich auch beschimpft und belästigt haben.”

 

 

 

2. Szene
AUS EINER MÜCKE
EINEN ELEFANTEN MACHEN


POLIZISTIN kommt schimpfend: Jetzt reicht es aber. Gibt es denn für unsereinen überhaupt keine Ruhe mehr … Einbrecher, Diebe, Feministen, Terroristen … Es reicht … .
Rap-Musik: „Auf, bereit, Einsatz … Haut ab, ihr feigen Kreaturen, was könnt ihr mehr als Flucht ergreifen … Wir zeigen euch schon, wer hier was zu sagen hat. Wie Hunde werdet ihr euch verkriechen und uns brav Hände und Füße lecken … “
POLIZISTIN: Belästigung, Bedrohung, Flüche … Na gut, was hast du auch um diese Zeit auf der Straße verloren, das Gesicht voll beschmiert mit Makeup, Reizkleider, Minirock und was weiß ich, und noch dazu voller Alkohol. Sei froh, dass sie sich an dir nicht vergangen haben, du Flittchen … .