Nachwort:

Hamid Ziarati im Gespräch mit Adriana Enslin

Die Geschichte eines Jungen,
der sich ins Leben stürzt


Hamid Ziarati im Gespräch

Wie würden Sie ihren Roman „Fast zwei“ in einem Satz definieren?
Die Geschichte eines Jungen, der sich ins Leben stürzt.
Was hat es mit dem Titel auf sich?
Einige Artikel auf Persisch haben den Titel irrtümlicherweise mit „Circa zwei“ übersetzt, als wenn es sich dabei um eine Zahl handeln würde. In Wirklichkeit bezieht sich dieses „Fast zwei“ auf die Identitätsfrage des Individuums.
Der Roman heißt „Fast zwei“, wie auch das zweite Kapitel, da der Protagonist von dort an eine doppelte Identität zu haben beginnt. Ausgelöst wird das von seinem Erfolg bei einem ideologisch geprägten Test in der Schule. Zu Hause und mit seinen Freunden in der Straße ist er der gleiche wilde Junge wie vorher: Er spielt weiterhin mit seinen Tauben (obwohl es als Glücksspiel betrachtet und als solches von den streng Religiösen verurteilt wird). Und er flirtet mit Zals Schwester, wohl wissend, dass das als Todsünde gilt. Jedes Mal, wenn er einen Film sieht, identifiziert er sich mit dem Helden und Protagonisten, sei er iranisch, amerikanisch, europäisch, indisch, oder was auch immer. Aber in der Schule und vor seinen Lehrern fühlt er sich fortan gezwungen, sich als devot und religiös zu geben. Er liest sogar die Biografien der Imame und des Propheten und lernt Verse und Hadiths, um wie einer zu wirken, der schon immer gläubig war. Und bei allen Zweifeln ist er schließlich davon überzeugt, der Auserwählte zu sein … er, der aus einer Familie stammt, in der man den Gästen Opium und Alkohol anbietet.
Das Buch heißt „Fast zwei“, weil sein Protagonist Darioush zwei verschiedene Auslegungen von Koran und Gott kennenlernt, fast so, als würden seine beiden Lehrer von zwei unterschiedlichen Göttern sprechen, die dem gleichen Propheten ganz widersprüchliche Botschaften geschickt haben.
„Fast zwei“ auch deshalb, weil Darioush und Zal Freunde sind, aber man sie „fast Brüder“ nennen kann, weil ihre Freundschaft und Verbundenheit seit der Kindheit so eng ist.
Außerdem sind er und der junge Iraker Saddam „fast zwei“ Feinde, denn auch wenn sie sich anfangs hassen und sich umbringen wollen, retten sie sich schließlich gegenseitig das Leben und werden so etwas wie „fast zwei“ Freunde.
Es ist immer ein „fast“, nie gibt es die definitive Dualität, die von einer klar gezogenen Grenze getrennt wird. Es ist genau das Gefühl dieses Altersabschnitts, den man als Jugendlicher durchläuft: fast ein Erwachsener, fast kein Kind mehr. Manchmal ist man für die Eltern das eine, dann wieder das andere. Irgendwie wird man zu so etwas gezwungen, das man eine fast schizophrene Doppelidentität nennen könnte. Es ist der Moment der Selbsterkenntnis, in dem sich das Leben auf einem schmalen Grat zwischen der Fantasie und der realen Welt bewegt.
Man könnte auch Sie selbst als „fast zwei“ bezeichnen: Sie sind in Teheran aufgewachsen und dann mit 15 Jahren nach Italien gekommen, ein iranisch stämmiger Autor, der auf Italienisch schreibt. Was bedeuten diese beiden Welten, die iranische und die italienische, für Ihre Arbeit als Schriftsteller?
Der Iran und Italien repräsentieren für mich zum einen die Heimat, die ich von meinen Eltern, zum anderen die Heimat, die ich von meinen Kindern geerbt habe. Dieses doppelte Heimatgefühl hat mich in die Lage versetzt, zwei der ältesten und bedeutendsten Kulturen der Menschheitsgeschichte kennenzulernen.
Meine Geschichten, die in einem fernen Land wie dem Iran spielen, wo die Leute einen anderen Glauben, einen anderen Kalender und andere Traditionen haben, können vielleicht manchmal sehr gegensätzlich zu italienischen Geschichten klingen. Aber ich versuche in meinen Geschichten auszudrücken, dass Zuneigung und Leidenschaft nichts mit Grenzen zu tun haben.
„Fast zwei“ spielt kurz nach dem Sturz des Schahs, in einer Zeit, die auch in Ihren vorigen Romanen auftaucht. Welches sind, ganz allgemein, die Schlüsselthemen, die Sie zum Schreiben bewegen, die Sie inspirieren?
Der Zeitraum, der von der Revolution im Iran bis kurz nach der irakischen Invasion reicht, war wahrscheinlich die am intensivsten wahrgenommene Zeit meines Lebens. Eine Zeit voller zerstörter Illusionen, die mich dazu gezwungen hat, meine Lieben im Iran zu verlassen und nicht mehr zurückzukehren. Ich schreibe meine Romane als eine Art Zeugnis, das ich meinen Kindern hinterlassen möchte. Ich versuche darin auszudrücken, warum ich bestimmte Entscheidungen getroffen habe, vor allem menschliche Entscheidungen, die man in keinem Geschichtsbuch findet.
Ist Ihr Schreiben autobiografisch geprägt?
Wie gesagt, ich schreibe für meine Kinder, die jetzt noch klein sind, als zukünftige Leser meiner Geschichten. Ich versuche, ihnen von dem kulturellen Gepäck zu erzählen, das ich mit mir herumtrage. Dabei schöpfe ich vornehmlich aus meinen persönlichen Erfahrungen, denn meine ersten 15 Jahre im Iran haben sich aus unerklärlichen Gründen tiefer in meinen Geist eingebrannt und sind nach wie vor lebendiger als die 30 Jahre, die ich in Italien verbracht habe.
Ihre zukünftigen Bücher?
Bis jetzt weiß ich das noch nicht… vielleicht ein fantastischer Roman, vielleicht einer, der in Italien spielt. Ich warte darauf, dass die Inspiration mich packt.
Wenn „Fast zwei“ eine Farbe wäre (oder auch zwei), welche wäre das für Sie?
Ich würde sagen, eine verschwommene Farbe, so wie der Schritt von der Jugend zum Erwachsenenalter, also grau. Aber ohne Abstufungen.

Das Gespräch führte Adriana Enslin