Barış Bıçakçı

Barış Bıçakçı (*1966) veröffentlichte im Jahre 2000, nach zwei Gedichtbänden, seinen Debütroman Überall gute Freunde.

Die kürzeste Entfernung zwischen uns ist die erste deutsche Übersetzung eines seiner Werke.

Leseprobe aus
Bei Helga und Latife zu Tee und Kaffee

von Rukiye Cankiran

Himbeer-Schnitte mit Sahne

Helga und Latife sitzen gemütlich am gedeckten Tisch und warten auf die Tochter von Latife. Sie hatte angerufen und wollte ihrer Mutter und Tante Helga nachträglich zum Valentinstag gratulieren. Hatice, die zweitälteste Tochter von Latife liebte solche Anlässe. Jeder Geburtstag, jeder Hochzeitstag, jeder Schulabschluss, jede bestandene Prüfung, jeder Feiertag und gefühlt jeder besondere Anlass musste gefeiert werden. Immer kam Hatice mit Kuchen, Blumen, Ballons, besonderen Servietten, Kerzen und was sie noch alles finden konnte.
    Sie war eine Frohnatur und immer in Action. Ihr Mann das genaue Gegenteil, ein Verwandter aus der Heimat, dem eigentlich solche Anlässe gleichgültig waren, der immer viel arbeitete und Geld für ein eigenes Haus oder ein neues Auto in der Türkei sparte, da sein einziges Ziel ein gutes Leben in der ursprünglichen Heimat war. Nicht einmal seinen eigenen Geburtstag feierte er, wozu auch? Es war doch schlimm, älter zu werden, wie konnte man so etwas feiern. Er hielt sich an solchen Tagen zurück, ließ Hatice machen und manchmal verschwand er dann irgendwann, ohne dass es auffiel. Keiner fragte nach ihm und so war es dann einerlei, Hatice feierte nun mal gern. Meistens kaufte sie auch für sich selbst einen Blumenstrauß am Valentinstag oder an ihrem eigenen Geburtstag. Ihr Motto: So habe ich wenigstens Blumen, die mir gefallen.
    Es klingelt, Latife geht zur Tür und macht auf. Eine strahlende Hatice mit einer Rosenbox in Herzform, neun riesigen, kurz geschnittenen, samtroten Baccarra-Rosen. Sie hatte es mal wieder übertrieben, aber Latife und Helga freuten sich. Es ist toll, wenn jemand an einen denkt und vorbei kommt. „Alles Liebe für euch beide zum Valentinstag, liebe Mami und liebe Tante Helga! Wie geht es euch?“, sagt Hatice und umarmt ihre Mutter. Helga kommt dazu und drückt Hatice auch. Gemeinsam gehen sie in die Küche und setzen sich an den gedeckten Tisch. Heute gibt es Himbeerschnitte mit einer riesigen Portion Sahne. Der Kaffee duftet und der Tee köchelt vor sich hin. Hatice trinkt eine Tasse Kaffee und nimmt ihrer Mutter zuliebe auch ein Glas Tee. „Köstlich, ganz wunderbar, dieser Kuchen. Ihr zwei Genießerinnen. Es hat sich in all den Jahren nichts geändert. Sonntag 15 Uhr und die beiden Damen verwöhnen sich mit dicken Kalorienbomben“, sagt Hatice und grinst.

„Wie geht es dir?“, fragt Helga neugierig. „Wie geht es deinem Mann und den Kindern?“ „Ach, es ist wie immer, Hasan kümmert sich um das Haus in der Türkei. Er reist bestimmt viermal im Jahr in seine Heimat, weil der Bau sich immer wieder verzögert hat und immer irgendetwas schief läuft. Ich weiß nicht, wieviel Geld er inzwischen verloren hat, weil er auch anwaltlich gegen den Bauherren vorgeht. Aber ich lasse ihn machen, wenn das der Sinn in seinem Leben ist, bitte schön. Wann wir endlich dort Urlaub machen können, ist unklar, aber auch das ist mir egal. Ich fühle mich in Hamburg wohl, brauche keinen Urlaub in Anatolien, von daher ist für mich alles gut. Er ist gern bei seiner Familie und unterstützt seine Verwandten. Die türkische Lira ist mal wieder an einem Tiefpunkt, dadurch ist Hasan mit seinen Euros ein reicher Herr.“ Hatice lacht, Latife ist nicht sicher, ob das ein ironisches Lachen ist oder ihre Tochter das wirklich lustig findet. Latife kennt diese endlosen Geldinvestitionen in die Verwandtschaft gut genug. Schließlich haben sie und ihr Mann auch jahrelang die Eltern und Geschwister unterstützt, wenn auch nicht so extrem, wie es Hasan tut, aber irgendwie waren die Gastarbeiter nicht nur für sich und die Kernfamilie zuständig, sondern gefühlt für das ganze Dorf, aus dem sie in die Fremde auswanderten auf der Suche nach einem besseren Leben. Mit jedem Urlaub wurden schwere Koffer mit Geschenken in die Heimat geschleppt, Schokolade, Pralinen, Kaffee, Schampoo, Seife, kleine Elektroartikel, Klamotten und alle möglichen Dinge, die von den Verwandten bestellt worden waren, als wenn die Gastarbeiter einen Kolonialwarenladen in Deutschland hätten. Latife seufzt tief und schaut Helga an, diese wunderschönen grau-blauen Augen, die heller leuchteten, wenn Helga glücklich oder aufgeregt war und dunkler wirkten, wenn sie traurig war. In der letzten Zeit leuchten ihre Augen immer ganz hell. Helga ist wirklich glücklich, das kann Latife deutlich erkennen.

„Ja, diese Geschenk-Arien kenne ich auch. Meine Familie mütterlicherseits kommt aus Kasachstan, eigentlich Wolgadeutsche, die im zweiten Weltkrieg nach Kasachstan siedeln mussten. Ich war noch klein und wir hatten Glück, dass wir nicht nach Sibirien mussten. Nach dem zweiten Weltkrieg kam ich mit meiner Familie nach Deutschland. Ich wurde wegen meiner deutschen Vorfahren als Deutsche anerkannt. Wir waren sozusagen Aussiedler der ersten Stunde. Später in den 1990er Jahren kamen weitere Russlanddeutsche, die nannte man dann Spätaussiedler. Wir haben in der Familie immer Deutsch gesprochen, daher sind wir sprachlich nie aufgefallen. Wir hatten lange Jahre noch Kontakte in unsere alte Heimat. Meine Eltern haben auch viele Pakete verschickt.“
Latife sieht Helga mit riesigen Augen an. „Wie bitte? Warum hast du das nie erzählt? Das ist nie Thema gewesen, warum hast du das alles verschwiegen? Und jetzt mit fast siebzig erzählst du plötzlich dieses wichtige Detail aus deinem Leben? Ich bin fassungslos. Latife war wirklich sehr bestürzt. „Heinz wollte nicht, dass wir darüber reden. Ich musste ihm versprechen, über meine Familie zu schweigen. Für ihn war ich immer Deutsche, wenn auch in meinem Ausweis mein Geburtsort Akmolinsk stand. Das war auch der Grund, warum ich immer einer Rundreise durch Russland machen wollte, wenigstens durch die Region, aus der meine Familie kam, auch Kasachstan. Auch wenn ich keinen Bezug zur russischen Sprache hatte und mich kulturell nicht für Kasachstan oder die anderen Republiken interessierte, so wollte ich den Boden meiner Vorfahren betreten und wenigsten diese Regionen sehen. Meine Geburtsstadt wurde mehrfach umbenannt, Zelinograd, dann Aqmola, Astana, kurze Zeit in Nur-Sultan und jetzt wieder in Astana. Das bedeutet auf Kasachisch Hauptstadt. Zwar habe ich mit Heinz eine Reise nach Moskau und auch St. Petersburg gemacht, aber zu mehr war er nicht bereit. Er meinte, dass ich mit dieser Reise nach Russland genug von der Heimat meiner Vorfahren gesehen hätte. Damit haben wir es dann belassen. Seine Eltern waren sehr konservativ und mochten keine Ausländer. Sie haben es nie direkt gesagt, aber zwischen den Zeilen war die Abneigung immer da.„

Helga nahm noch ein großes Stück Himbeerschnitte, diesmal ohne Sahne und genoss den zarten Geschmack der frischen Früchte. Ja, Kaffee und Kuchen, das war für Helga schon immer Heimat gewesen. Früher hatte sie gern selbst nach den alten Rezepten ihrer Mutter und Großmutter gebacken. Auch mit Latife hatten sie früher gemeinsam für die Kinder gebacken. Manchmal hatten sie Rezepte aus der Türkei ausprobiert. Einige Versuche gingen schief, dann machten die beiden Frauen einfach spontan einen neuen Kuchen. Das war Ende der 1970er bis Anfang der 1990er Jahre. In ihrem Haus in Ottensen probierte Helga dann neue Rezepte aus, Kuchen, die man nur mischen und kalt stellen musste. Später kamen vegane Kuchen und Muffins dazu und auch Pralinen machte Helga selbst. Aber am liebsten backte sie nach alten Rezepten einfache Kuchen mit Apfel, Pflaume, Beere oder Kirsche. Das waren immer die Klassiker für sie, die Rezepte hatte sie auch ihren beiden Töchtern gegeben, damit diese Tradition weiter leben konnte.
Inzwischen ist ihr das Backen zu mühsam, heute kauft sie immer frischen Kuchen, jeden Sonntag, immer um 15 Uhr ist ihre besondere Stunde, die ihr niemand nehmen kann, auch heute nicht.

    Hatice hatte natürlich auch Baklava mitgebracht, dieses supersüße, vor Zucker triefende Blätterteiggebäck mit Pistazien. Aus Höflichkeit und Respekt aß auch Helga ein Stück, aber sie mochte Baklava nicht, es war ihr einfach zu süß und klebrig. Latife liebte Baklava mit schwarzem Tee. Auch heute hatten die beiden Frauen das Mittagessen gestrichen, weil sie wussten, was sie um 15 Uhr erwartete.
    Hatice musste sich an die Frauen-WG ihrer Mutter gewöhnen. Sie hatte nach dem Tod ihres Vaters ihrer Mutter angeboten, bei ihr zu wohnen. Aber sie wusste, dass es ihrer Mutter schwer fallen würde, beim Schwiegersohn zu leben. Sie kannte Latife, für die es nur in Frage kam, beim eigenen Sohn alt zu werden. In dieser Beziehung war Latife dann doch wieder die traditionelle, anatolische Mami. Zu ihrem Sohn Mehmet wäre sie gezogen, wäre dieser nicht mit einer Polin verheiratet. Latife war zwar einerseits sehr enttäuscht, dass ihr einziger Sohn, ihr jüngstes Kind, nicht eine Braut aus dem eigenen Kulturkreis ausgewählt hatte, aber andererseits wusste sie auch, dass ihr Sohn sehr glücklich mit seiner Frau war. Damit hatte sie sich dann arrangiert.
    Hatice erzählte von ihren gesundheitlichen Wehwehchen und einigen Streitereien in der Familie ihres Mannes. Helga hörte nur mit halbem Ohr zu, da sie wusste, dass Hatice zwar aus eigener Unzufriedenheit diese Geschichten zum Besten gab. Aber sie würde doch nichts an den komplizierten Beziehungen zur Verwandtschaft ihres Mannes ändern. Seit Jahren dasselbe, Diskussionen, Streit, Versöhnung, Dramen, wieder Streit und irgendwie dann wieder Versöhnung. Am Ende sagte Hatice dann immer: Ach das ist mir alles egal, sollen sie doch alle machen, was sie wollen. Sie sind weit weg in der Türkei, ich bin hier. Mein Mann klärt seine Angelegenheiten und gut ist. Latife sagte nichts dazu, auch Helga schwieg. Beide wussten, dass Hatice auf ihre Art wohl unter Ehe und Verwandtschaft litt, aber da sie keine Anstalten machte, aktiv etwas zu ändern, nickten die beiden zustimmend.
    Nach etwa zwei Stunden verabschiedete Hatice sich, Latife winkte ihr noch an der Tür nach. Danach räumten die beiden Frauen ihre Küche auf und gingen ins Wohnzimmer, um zu sehen, was im Fernsehen lief. Der Sonntag war doch schon immer gemütlich. So nett es mit Hatice war, die ganzen Geschichten mit den Verwandten waren schon anstrengend und manchmal war es schwer, den Überblick zu behalten, wer gerade mit wem im Klinsch lag, oder welches Kind gerade wen heiraten wollte. Auch die Tatsache, dass die Verwandten von Paris bis London, von Österreich bis Norwegen überall verteilt waren, machte es nicht einfacher, den vielen Geschichten von Hatice zu folgen. Helga und Latife waren beide froh, dass sie den Rest des Tages für sich hatten.
Trotzdem wollte Helga nett sein und sagte „Schön, dass Hatice uns besucht hat, es ist doch toll, wenn die Kinder einen im Alter nicht vergessen.“ Latife nickte und sagte: „Ja, so ist es. Die lieben Kinder, schön, dass sie da sind“, und dachte sich im Stillen:
    „Auch wenn mich die vielen Verwandten ihres Mannes und ihre ganzen Tratschgeschichten nicht wirklich interessieren …“

Zur Seite Bei Helga und Latife zu Tee und Kaffee

Zum Shop