von
Martin Greve
Dersim ist eine gebirgige Region im Osten Anatoliens, etwa 1000 Kilometer östlich von Istanbul, und noch 500 km östlich von Ankara entfernt. Heute
trägt die Region den türkischen Namen Tunceli und ist eine Provinz der Republik Türkei. Umgeben von Gebirgen und Flüssen war Dersim bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts kaum zugänglich und daher
ein natürliches Refugium für Minderheiten aller Art: Von drei Seiten wird Dersim umschlossen von Murat und Karasu, den beiden Quellflüssen des Euphrat, im Osten begrenzt vom Peri Suyu, dem
»Feen-Fluss«. Im Norden steigen überdies die Munzur-Gebirge bis auf 3000 Meter empor. Seit den 1970er Jahren trennt der große Keban–Stausee die Provinz im Süden von der Nachbarprovinz Elazığ,
dort, wo zuvor die beiden Quellflüsse des Euphrat zusammenflossen.
Tunceli ist die einzige Provinz der Türkei, in der Aleviten die Mehrheit bilden. In der noch jungen Hauptstadt Tunceli sowie im
Westen der Provinz leben aber auch Sunniten. Bis zum späten 20. Jahrhundert sprach ein Großteil der Bevölkerung Kirmantschki (auch: Zaza), eine Sprache der Nordwestgruppe iranischer Sprachen;
eine Minderheit, vor allem der Süden und Südosten von Dersim sprach Kurmandschi (Nordkurdisch). Lange hielt man beides für kurdische Dialekte, heute qualifizieren die meisten Linguisten beides
jedoch als unterschiedliche Sprachen. In Dersim lebten aber auch Turkmenen und bis zum Völkermord 1915 viele christliche Armenier in den abgelegenen Bergdörfern von Dersim, die Mehrheit in enger
und friedlicher Nachbarschaft mit den Aleviten.
Gemessen an ihrer Bevölkerungszahl ist Tunceli heute die zweitkleinste Provinz der Türkei: Gerade einmal 90 000 Menschen leben
heute noch hier, auf einer Fläche, halb so groß wie Thüringen. Bis vor zwei Generationen gab es in der Region noch keine Städte, nur Dörfer und kleine Marktflecken. Die Städte, von denen in den
Märchen gelegentlich die Rede ist und in denen die Paschas oder Sultane ihre Paläste haben, liegen also stets außerhalb von Dersim, meist sind diese Herrscher Türken und stets
Sunniten.
In den Dörfern lebten die Menschen überwiegend in einfachen, selbstgebauten, einstöckigen Häusern aus groben Steinen. Bei
zweistöckigen Häusern befanden sich unten der Stall für die Tiere, während die Menschen oben wohnten – immer wieder gehen in den Märchen die Helden »hinab« zu den Tieren. Der Besitz von Tieren
war wichtig in den wenig fruchtbaren Bergen, Tiere gaben Fleisch, Milch und Felle. Bewacht und versorgt wurden die meist kleinen Herden von Hirten, die mit den Tieren durch die Berge wanderten.
In vielen Gegenden zogen die Menschen mit ihren Ziegen und Schafen jeden Sommer auf höher in den Bergen gelegene Sommerweiden oder Almen, wo es weniger heiß und das Gras saftiger war, so wie es
etwa in der Geschichte »Die Ziege und der Wolf« beschrieben wird. Einige halbnomadische Stämme zogen in der Vergangenheit ohnehin von Ort zu Ort, so wie die Bertij in »Kekin und Bese«. Aus Milch
machte man Ayran, Joghurt, Rahm, Käse oder Tschökelek, eine Art Frischkäse; und daraus typische Dersimer Gerichte wie Zerefet (Butter, Ayran, Teig, Joghurt, Knoblauch) oder, ähnlich, Gömme,
Gömbe. Beliebt ist aber auch der Fleischeintopf Kavurma.
Insgesamt war das Leben in den Bergen von Dersim hart, und so sind die allermeisten Hauptfiguren der Märchen arm. Einige Male müssen sie (für Dersimer) phantastische Aufgaben erfüllen, wie drei Kessel voller Speisen aufessen oder gigantische Mengen von Getreide sortieren. Tatsächlich gab es in der Bergwelt nur selten große Felder, etwa mit Weizen. Solche Felder lagen eher im Süden, hin zur Ebene von Elazığ. Bis in die 1960er Jahre hinein gab es in Dersim zahlreiche Wassermühlen, wo das Korn zu Mehl gemahlen wurde, und auch diese Mühlen tauchen in den Märchen immer wieder auf. Besitzer von Mühlen wurden in Dersim mitunter reich, waren aber auch angesehen, und in den Märchen sind sie überwiegend gutartige, bescheidene Retter. Gelegentlich erscheinen in den Märchen schließlich Kräuterheiler, manchmal auch andere Heilkundige. Die traditionelle Heilkunde, basierend auf der überreichen Pflanzen- und Tierwelt von Dersim war hoch entwickelt.
Wichtigstes soziales Ereignis im Sommer waren Hochzeiten, die, wie überall in Anatolien, groß und ausgiebig gefeiert wurden.
Einige der Märchen beschreiben die Feiern: Hier wurden (und werden noch heute) zum Klang von Trommel (davul) und Schalmei (zurna) oder Klarinette Halay und andere Reigentänze getanzt. In den
Wintern dagegen herrschte alljährlich klirrende Kälte, und meterhoch lag Schnee, der die Menschen über Monate in ihren Häusern einschloss. Während der langen Winterabende gab es außer Gesprächen
als Unterhaltung nur mehr oder weniger wahre Geschichten, Märchen, Rätsel, eligiöse, epische und Klagelieder, begleitet auf der kleinen Laute tomir (Türkisch: cura) oder einer Geige. Diese
Klagelieder werden beispielsweise in dem Märchen »Der Hahn und die Maus« parodiert.
Märchen wurden in Dersim vor allem während der langen Winterabende erzählt, wenn die Dörfer in den Bergen oft über Monate durch
meterhohen Schnee von der Außenwelt abgeschnitten waren. Eine literarische Tradition von Märchen gab es in dieser Region nicht (die Analphabetenrate war hier bis weit ins 20. Jahrhundert hoch),
und ist erst seit etwa den 1990er Jahren allmählich im Entstehen. Einige der Dersimer Geschichten enden mit Sätzen wie: »Was er erlebt hatte, wurde zum Märchen und wird erzählt bis auf den
heutigen Tag«, was vermuten lässt, dass zumindest einzelne der Geschichten in Teilen auf wahre Begebenheiten zurückgehen könnten. Tatsächlich waren die Grenzen zwischen »wahren« Geschichten und
Märchen in Dersim wohl nicht immer ganz klar, und je älter Geschichten von tatsächlichen Begebenheiten werden, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie durch Ausschmückungen allmählich
zu religiösen Legenden oder Märchen wurden. Andere Märchen kamen wahrscheinlich von außen nach Dersim, wurden weitererzählt und dabei dem eigenen Leben in den Dersimer Bergen angepasst. In den
regional vielfältigen Dialekten des originalen Kirmantschki / Zaza wurden verschiedene Wörter für Märchen gebraucht, etwa sanike, sanık, sonık, şanike, sonike, sünike, şonike, estaneke, estanike,
estanek, estoneke, estonike, vistanike, vistanek, vistunık, fıstunik, fıstunek, oder mesele. Daneben gab es Rätselerzählungen (mertali) und andere mehr oder weniger wahre Geschichten (hekate oder
hikaye).
Es sind seltsame Geschichten, manchmal heiter, manchmal erschreckend grausam, und viele dieser Märchen sind wohl für Kinder nicht
geeignet. Die Vielfalt an Figuren, Stimmungen und Geschichten ist erstaunlich und reicht von Tiermärchen, über Heldengeschichten zu Zauber- oder Wundermärchen. Wunder kommen in den Dersimer
Märchen tatsächlich überaus häufig vor: Tiere beginnen zu sprechen, Kessel oder Truhen fliegen davon, Flüsse und selbst die Meere teilen sich, Nachrichten werden auf rätselhafte Weise auch über
große Entfernungen augenblicklich übermittelt, und Tote kehren ins Leben zurück. Immer wieder trifft man in den Handlungen auf groteske Zufälle und völlig unvorhersehbare Wendungen. Viele der
Märchen beginnen ausgesprochen realistisch und beschreiben die alte Lebenswelt der Dörfer von Dersim. Dann aber geschehen seltsame, manchmal geradezu skurrile Dinge, die alles in eine unwirkliche
Märchenwelt versetzen.
Ein Auszug aus dem Vorwort des Übersetzers zum Titel
Der Derwisch und der Drache - Märchen aus Dersim
von Caner Canerik, Engelschoff: Verlag
auf dem Ruffel, 2022.
ISBN 978-3-933847-65-2