Die Gattung Kurzgeschichte genießt in der Türkei eine Beliebtheit, die im Vergleich mit dem deutschen Sprachraum Staunen erweckt. Eine Vielzahl an Print- und
Onlinezeitschriften sowie Buchveröffentlichungen versorgen ein mit Mitteleuropa verglichen überschaubares aber junges Lesepublikum mit Geschichten, die – so die eine Definition – in einer
einzigen Sitzung lesbar sind. Ihren Ursprung hat die moderne Kurzgeschichte in der großen Umorientierung der Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert, auch Europäisierung genannt. Zunächst
wurden beliebte Werke der französischen Literatur übersetzt und als Bühnenbearbeitungen umgeschrieben, eine der traditionellen entgegengesetzte Lyrik entstand, dann erschienen Erzählwerke,
darunter auch solche, die heute noch gern gelesen werden.
Während der Schauplatz dieser ersten Phase vor allem das damals noch kosmopolitische Konstantinopel war, trat mit der Jahrhundertwende eine Phase in das Kulturleben des
Vielvölkerstaates ein, in der die Nationalitäten eine wachsende Rolle zu spielen begannen. Dies führte um die Jahruhndertwende zum einen zur Entwicklung einer nationalistisch-tendenziösen
Literatur, zum anderen aber auch zur Entdeckung der anatolischen Provinz durch die immer noch in der Hauptstadt geborenen und sozialisierten Schriftsteller. Der damals hoch im Kurs stehende
Realismus (und Naturalismus) trug dazu bei, dass eine Literatur, »die vom Schicksal Anatoliens spricht« nach der Gründung der Republik Türkei als eines türkischen Nationalstaates zum Mainstream
avancierte.
Eine Literatur, die im großen und ganzen einem staatlich vorgegebenen (aber auch staatlich interpretierten) Ideal der Modernität verpflichtet blieb, die aber auch ein großes
kritisches Potential entwickelte, wie es das deutsche Lesepublikum etwa von den Romanen Yaşar Kemals und satirischen Erzählungen Aziz Nesins her kennt.
Bedingt durch das verhältnismäßig geringe Interesse der deutschen Leserschaft an der Kurzgeschichte wurden nur wenige Erzähler dieser Gattung ins Deutsche übersetzt. Die
Neugier wurde eher mit Anthologien gestillt, deren erste, wichtige der 1963 von H. W. Brands herausgegebene (1996 wieder aufgelegte und inzwischen längst vergriffene) Band Die Pforte des Glücks
und andere türkische Erzählungen ist. Während wir aus den 1980er Jahren nur die von der türkischen Erzählerin Füruzan herausgegebene Sammlung Erkundungen – 9 türkische Erzähler haben, steigt die
Zahl gleich zu Beginn der 1990er Jahre: Moderne türkische Erzählungen (W. Riemann, 1990), Türkische Erzählungen des 20. Jahrhunderts (P. Kappert und T. Turan, 1992/2008), Frauen in der Türkei (H.
Egghardt und Ü. Güney). Darauf folgt wieder die Ebbe: Bis heute erschienen lediglich zwei Kurzgeschichtensammlungen in der Reihe Türkische Bibliothek, die, anders als gewohnt, einen thematischen
Schwerpunkt hatten: Von Istanbul nach Hakkâri als eine literarische Rundreise durch die Türkei (T. Turan, 2005) und Liebe, Lügen und Gespenster als eine Sammlung von experimentellen, satirischen,
die Randbereiche der Literatur auslotenden Geschichten (B. Sagaster, 2006).
Es gibt lesenswerte ErzählerInnen, die in diesen Anthologien nicht oder nicht gebührend vertreten sind. Um diesem Mangel entgegenzuwirken, stellen wir Ihnen auf unserer
Webseite einige Bücher hier kaum bekannter Erzähler vor: Refik Halid Karay, der bereits um 1915 mit seinen Geschichten des Landes eindrucksvolle Bilder aus Anatolien lieferte,
Behçet Çelik mit Glück allein, einer Auswahl aus seinem Gesamtwerk, Ahmet Büke mit der Übersetzung seines Bandes Was die Taube
sah, den inzwischen in deutscher Sprache bekannten Ahmet Ümit mit seinen Kriminalgeschichten Der Teufel steckt im Detail, und Aziz
Nesin, den Altmeister der Satire mit einem Briefroman, dessen Teile in sich abgeschlossene kleine Erzählungen darstellen: Unsere wunderbaren Kinder. Satirisch
muten sich auch die gelebten Geschichten in Wie ich mich (nicht) intergrierte von Asiye Müjgan Güvenli an. Eine ungewöhnliche Entwicklungsgeschichte
erzählt Barış Bıçakçı in den 24 Episoden des Bandes Die kürzeste Entfernung zwischen uns, und Bıçakçıs ungewöhnlicher Titel Als ob jeder mit
jedem bekannt wäre steht für einen Geschichtenreigen, der uns durch die Menschen auf Ankaras Straßen führt. Fatma Akerson lässt in den drei längeren Erzählungen
ihres Buches Das rote Motorrad jeweils eine weibliche Hauptfigur auftreten, die von ihrem Heranwachsen und ihren Abenteuern mit Gilgamesh und mit Gahmuret erzählt. Eine
Anthologie rundet diese Reihe ab, so wie es sie auch in der Türkei noch nie gegeben hat: Ni kaza en Turkiya – Erzählungen jüdischer Autoren aus Istanbul.
Bereits erschienen
Ahmet Ümit: Der Teufel steckt im Detail | Aziz Nesin: Unsere wunderbaren Kinder | Barış Bıçakçı: Die kürzeste Entfernung zwischen uns | Barış Bıçakçı: Als ob jeder mit jedem befreundet wäre | Fatma Akerson: Das rote Motorrad | Wolfgang Riemann (Hg.): Ni kaza en Turkiya - Erzählungen jüdischer Autoren aus Istanbul